Was Herrn Hüther persönlich am Herzen liegt,
möchte er Euch hiermit gerne selber sagen:
"Das Dogma vom „Survival of the Fittest“ beherrscht seitmehr als einem Jahrhundert das Denken, Fühlen und Handeln der meisten Menschen in der westlichen Welt. Sie versuchen, sich gegenseitig zu überholen, auszustechen, zu überbieten und auszutricksen und glauben damit, einem Naturgesetz zu folgen, das für alle Lebewesen gilt. Aber der Mensch unterscheidet sich von allen anderen Lebensformen sehr grundsätzlich: Kein anderes Lebewesen verändert seinen eigenen Lebensraum und seine eigenen Lebensbedingungen so grundlegend, so nachhaltig - und inzwischen auch so rasch - wie wir Menschen. Unsere Spezies ist daher die einzige Art, die nur überleben kann, indem sich ihre Mitglieder selbst ständig weiterentwickeln. Und als Menschen tatsächlich weiterentwickeln - also die in uns angelegten Potentiale entfalten und nicht nur ständig neue Technologien und Überlebensstrategien erfinden - können wir nicht als Einzelkämpfer. Das gelingt nur gemeinsam.
Wenn wir also auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir lernen, unser Zusammenleben konstruktiver als bisher zu gestalten: Miteinander statt gegeneinander, verbindend statt trennend, achtsam statt rücksichtslos.
Wie alt ist ist diese Erkenntnis und wie oft ist sie auf unterschiedliche Weise und mit anderen Worten bereits verbreitet worden? Es hat alles nichts genützt. Wir machen so weiter wie bisher und sind dabei, die über Jahrmillionen auf unserem Planeten entstandene Vielfalt des Lebens zu ruinieren. Es gibt keine andere Erklärung: Wir haben uns verirrt.
Wie aber kann es unserer Spezies gelingen, wieder zu dem zurückzufinden, was ursprünglich einmal das Herausstellungsmerkmal aller Primaten war: Die Fähigkeit zur Herausbildung individualisierter Gemeinschaften? In unserer gegenwärtigen naturwissenschaftsgläubigen Epoche erscheint das am Wahrscheinlichsten durch eine Rückbesinnung auf die folgenden fünf einfachen Botschaften. Sie beruhen auf objektiven, randomisierten und meist blutig verlaufenen Feldversuchen und den dabei gewonnenen Befunden sowie auf einer Vielzahl von im Verlauf der Menschheitsgeschichte zutage getretenen Erkenntnissen.
1. Botschaft: Wir sind alle Suchende
Neuroplastizität nennen die Hirnforscher die Fähigkeit des Gehirns, seine eigene Struktur, also die für bestimmte Leistungen zuständigen neuronalen Verknüpfungen und synaptischen Netzwerke so herauszubilden, umzugestalten und auszubauen, wie sie sich am besten für die Umsetzung all dessen eignen, was einem Menschen in seinem Leben wichtig erscheint.
Dass unser Gehirn nicht durch genetische Anlagen programmiert wird, sondern zeitlebens umbaufähig, also lernfähig bleibt, ist eine atemberaubende Erkenntnis. Sie stellt alle deterministischen Konzepte radikal auf den Kopf, die wir bisher als Rechtfertigungen für das Misslingen aller Bemühungen um Veränderung und Weiterentwicklung nicht nur in unseren Bildungseinrichtungen, auch in Politik und Wirtschaft und vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft verantwortlich gemacht hatten.
Aber wirklich bemerkens- und bedenkenswert ist nicht diese neue Erkenntnis der lebenslangen Umbau- bzw. Lernfähigkeit des menschlichen Gehirns, sondern der Umstand, wie langsam sie sich ausbreitet, wie zögerlich sie von den meisten Menschen angenommen, ernst genommen und deshalb auch umgesetzt wird. Denn die wichtigste Schlussfolgerung aus der Erkenntnis der lebenslangen Plastizität des menschlichen Hirns lautet doch zwangsläufig: Wir verfügen über keine biologischen Programme, die uns zu dem machen, was wir sind. Wir müssen selbst herausfinden, was es heißt, Mensch zu sein: keiner weiß, wie es geht. Wir sind alle Suchende, überall auf der Welt.
Die meisten Menschen sind allerdings nicht auf der Suche nach Selbsterkenntnis sondern nach Bedeutsamkeit. Sie wollen gesehen und beachtet werden und versuchen deshalb ihr Leben so zu gestalten, dass sie möglichst viel von dem erreichen, was sie den Augen all jener, die ähnlich unterwegs sind, bedeutsam macht: Einfluss, Macht und Reichtum in allen Facetten. Solange sie sich so sehr darum bemühen und dabei einigermaßen vorankommen, verstärken und verfestigen sich die abei in ihren Gehirnen aktivierten neuronalen Verschaltungsmuster. So bekommen sie ein Hirn, mit dem sie immer besser in der Lage sind, ihre eigenen Positionen zu stärken und sich auf Kosten anderer durchzusetzen.
Am erfolgreichsten sind dabei meist all jene, die schon sehr früh und deshalb besonders nachhaltig gelernt haben, andere als Objekte zur Umsetzung ihrer Interessen und Absichten zu benutzen. Also diejenigen, die andere Personen möglichst geschickt zu Objekten ihrer jeweiligen Ziele und Erwartungen, ihrer Belehrungen und Bewertungen, ihrer Maßnahmen und Anordnungen zu machen gelernt haben. So kann man leben, aber sich als Persönlichkeit weiterentwickeln, seine Würde bewahren, achtsam sein, dauerhaft glücklich oder gar ein liebevoller Mensch werden, kann niemand, der andere in dieser Weise benutzt, oder sich gar selbst von anderen in dieser Weise für die Durchsetzung von deren Interessen benutzen lässt.
2. Botschaft: Wer ernsthaft sucht, der findet auch etwas
Die Arbeitsweise des menschlichen Gehirns und damit auch seine inneren Organisation und Strukturierung wird von einem ziemlich banalen Grundprinzip bestimmt: Energie sparen. Das gilt für alle lebenden Systeme, also für jeden Zellverband, jeden Organismus, eine soziale Gemeinschaft oder ein Ökosystem. Sie alle gehorchen dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik und müssen deshalb versuchen, den zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit und ihrer Integrität erforderlichen Energieverbrauch so gering wie möglich zu halten. Sonst zerfallen sie.
Der Zustand, in dem ein Gehirn, ein ganzer Mensch und auch eine menschliche Gemeinschaft am wenigsten Energie verbraucht, heißt Kohärenz. Der ist dann erreicht, wenn alles optimal zusammenpasst. Das Problem ist nur: dieser Zustand ist leider nicht erreichbar. Denn solange wir noch am Leben sind, wird jeder einmal erreichte Kohärenzzustand auch zwangsläufig immer wieder in Frage gestellt. Es gibt immer irgendetwas, was diese Kohärenz stört. Das wird dann schnell unbequem, wir haben ein Problem, der bis dahin erreichte Ordnungszustand kommt durcheinander, die Nervenzellen beginnen unkoordiniert zu feuern. Arousal nennen das die Hirnforscher und das ist nur ein anderer Ausdruck für eine sich ausbreitende und viel Energie verbrauchende Inkohärenz.
Dann geht es uns nicht gut, wir beginnen nach einer Lösung zu suchen und wenn wir die finden und die Herausforderung bewältigen können, wird dieser inkohärente, energieaufwändige Zustand im Hirn wieder etwas kohärenter. Die dabei freiwerdende Energie wird benutzt, um Zellgruppen im Mittelhirn zu aktivieren (die nennen die Hirnforscher gern „Belohnungszentrum“). Die dort freigesetzten Botenstoffe aktivieren ähnliche Netzwerke wie Kokain und Heroin, das erzeugt ein gutes Gefühl („Erfolgserlebnis“). Gleichzeitig stimulieren diese Botenstoffe die Freisetzung von Wachstumsfaktoren, also von Eiweißen, die wie Dünger auf Nervenzellen wirken und sie zur Neubildung von Fortsätzen und Kontakten anregen. So werden all jene Nervenzellverknüpfungen verstärkt und ausgebaut, die sich als geeignet erwiesen haben, diesen inkohärenten Zustand wieder etwas kohärenter zu machen. Wir haben also ein Problem bewältigt und die dabei aktivierten Vernetzungen im Gehirn sind dabei verstärkt worden. Deshalb klappt das so gebahnte Verhaltensmuster dann beim nächsten Mal schon deutlich besser.
3. Botschaft: Suchende können sich auch leicht verlieren
Aber die Lösung, die wir gefunden haben, muss nicht zwangsläufig auch eine langfristig tragfähige Lösung sein. Die massivste Störung, also die stärkste Inkohärenz, die wir Menschen erleben können, entsteht immer dann, wenn wir von anderen Personen zum Objekt von deren Interessen und Absichten, Belehrungen und Bewertungen, Maßnahmen und Anordnungen gemacht werden.
Oft geschieht das schon während der Kindheit, spätestens aber in der Schule, in der Ausbildung und im Beruf geht es dann so weiter. Und die Lösung, die die meisten von uns dann für dieses tiefgreifende Problem als Heranwachsende gefunden haben, heißen entweder: wenn Du mich zum Objekt machst, mache ich das auch mit Dir. „Doofe Mama“ sagt dann das kleine Mädchen, wenn es von der Mutter zurechtgewiesen wird. Alternativ hilft es auch, den Schmerz einer solchen Erfahrung zu überwinden, indem man sich selbst zum Objekt seiner Bewertungen macht („Ich bin nicht gut genug.“, „Ich kann kein Mathe.“ etc.). Manche Personen bleiben zeitlebens in einem dieser beiden Lösungsmuster stecken. Sie erfüllen ihre jeweiligen Objektrollen, entwickeln sich aber als lebendige Menschen nicht weiter, weil sie dabei ihre angeborene Entdeckerfreude und Gestaltungslust verlieren.
4. Botschaft: Wer sich unterwegs verloren hat, kann sich auch wiederfinden
Das menschliche Hirn ist zeitlebens umbaufähig und es ist nie zu spät, sich aus diesen gebahnten Mustern des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wieder zu lösen und wieder zu einem selbstverantwortlichen und selbstgestaltenen Subjekt zu werden und zu seinem authentischen Selbst zurückzufinden. Aber das gelingt nur selten allein. Dazu bedarf es der Begegnung mit anderen, mit denen man sich gemeinsam auf den Weg macht. Bisweilen gelingt es in solchen Begegnungen, dass Menschen einander berühren und dadurch selbst im Inneren berührt werden. Dann beginnen sie, sich selbst zu fragen, was für ein Mensch sie sein wollen und wofür sie das ihnen geschenkte Leben eigentlich nutzen wollen. So können sie wieder lernen, achtsam mit sich selbst, mit anderen, auch mit der ganzen Vielfalt des Lebendigen umzugehen.
Allmählich fangen wir auch an zu verstehen, dass wir Menschen soziale Wesen sind und niemand allein leben, geschweige denn – ohne andere, die ihm zeigen, wie es geht – irgendetwas lernen kann. Wir brauchen also immer andere Menschen, um uns weiterzuentwickeln und die in uns angelegten Potentiale zu Entfaltung zu bringen. Je stärker sich diese anderen von uns unterscheiden, um so mehr können wir von ihnen lernen. Damit wir aber mit diesen Andren in eine alle fruchtbare, anregende, co-kreative und damit entwicklungsfördernde Beziehung treten können, müssten wir zunächst mit uns selbst im Reinen sein, also eine gute Beziehung zu uns selbst herausgebildet haben. Nur dann können wir einem anderen Menschen authentisch und zugewandt, wertschätzend und offen begegnen. Nur dann sind wir in der Lage, vorbehaltlos, ohne innere Zerrissenheit, ohne Angst und Selbstzweifel auf andere zugehen.
Nicht alle Menschen sind dazu in der Lage. Es gibt immer noch viele, die sich eine Lebenswelt zu schaffen versuchen, in der möglichst alles so bleibt, wie es einmal war. Verwaltungsbeamte zum Beispiel, auch Führungskräfte und Politiker, leider auch manche Lehrer, sogar Hochschullehrer und Ärzte. Eigentlich alle, die Angst vor Veränderungen haben, weil sie den Verlust ihrer so mühsam eroberten Machtpositionen befürchten. Sie alle haben nicht nur keine Lust, sich selbst weiterzuentwickeln, sie tun auch alles, was in ihrer Macht steht, um die Weiterentwicklung anderer zu verhindern.
5. Botschaft: Entwicklung heißt, aus einmal entstandenen Verwicklungen wieder herauszufinden
Es gibt in unserer Gesellschaft mehrere Bereiche, in denen diese alten Fühl-, Denk- und Handlungsmuster noch eine Zeitlang beibehalten werden, weil die in unserer globalisierten und digitalisierten Welt stattfindenden Veränderungen dort so gut es geht abgeschirmt werden. In dem Bereich, der am stärksten von diesen Veränderungen betroffen ist, funktioniert das allerdings inzwischen überhaupt nicht mehr – in der Wirtschaft. Unternehmen, in denen versucht wird, einfach so weiterzumachen wie bisher und deren Führungskräfte nicht auf die Veränderungen von Kundenwünschen und Märkten, von Produktionsabläufen und Technologien, aber auf die sich ebenfalls verändernden Vorstellungen der jetzt nachwachsenden Mitarbeitergeneration reagieren und ihre Arbeitsweise und die ihres Unternehmens entsprechend verändern, sind verloren. Die sind nicht fit für eine sich immer rascher verändernde Welt.
Wie rasch sich die Welt in der wir leben verändert, ist inzwischen überall zu spüren. Wissenschaftliche Entdeckungen und technologische Entwicklung sind der Motor dafür, aber das Gaspedal mit dem all das vorangetrieben und umgesetzt wird, bedienen nicht die grauen Theoretiker in den Universitäten, sondern die Praktiker vor Ort. Die Keimzellen einer neuen Kultur des Miteinander und und des gemeinsamen Über-Sich- Hinauswachsens entstehen überall im Land. Die Mitglieder solche Gemeinschaften oder StartUps versuchen gemeinsam herauszufinden, wie wirkliche Weiterentwicklung gelingen kann. Ent-Wicklung heißt ja, aus einmal entstandenen Verwicklungen wieder herauszufinden.
Niemand muß sich auf solch einen Selbstentwicklungsprozess einlassen. Dafür bedarf es einer eigenen Entscheidung. Die trifft aber auch jeder Mensch, der lieber so bleiben will, wie er nun einmal geworden ist. Wer diese Herausforderungen nicht anzunehmen bereit ist und so weiterzumachen versucht wie bisher, wird dann eben zu spät bemerken, dass der Zug längst ohne ihn abgefahren ist. Ihm mit weiteren Effizienzsteigerungs- und Selbstoptimierungsversuchen nachzurennen, hilft dann auch nicht mehr.
Mit etwas mehr Bereitschaft zu einer eigenen Weiterentwicklung, wäre das nicht passiert. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, hatte schon Michael Gorbatschow den Führungskräften aus der untergegangenen DDR prophezeit."
(Gerald Hüther)